Kindeswohlgefährdung
Rechtliche Rahmenbedingungen
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist seit 2000 im BGB verankert. (§ 1631 BGB Inhalt und grenzen der Personensorge) (…) (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende (…) |
Rechtsnormen sind auf abstrakte Formulierungen angewiesen und sind daher eher unscharf. Durch die eigene Auslegung gewinnt der Rechtsbegriff an Schärfe; dabei wird jedoch der Einzelfall bewertet.
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die Letztentscheidungskompetenz liegt bei den Gerichten
Die Rechtsprechung versteht unter Gefährdung:
„eine gegenwärtige in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“
(BGH FamRZ 1956, S. 350 = NJW 1956, S. 1434)
`Kindeswohl´ definieren Eltern für sich und ihre Kinder eigenständig, da „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“ (BV erfGE, 59, 330, <376>)
Elternrecht und staatliches Wächteramt (=Jugendamt und Familiengericht): Artikel 6 Grundgesetz (…) (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (…) |
Es gilt:
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ein Minimum an staatlichen Eingriffen in die Eltern-Kind-Beziehung (Selbsthilfepotential)
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Kindeswohl vor Elternrecht bei Kindeswohlgefährdung
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Staatliches Wächteramt: Gefahren abwehren, wenn elterliches Pflege- und Erziehungsversagen eine Kindeswohlgefährdung nach sich zieht.
Rechtliche Regelungen:
§ 8a SGB VIII (seit 1.10.2005)
§ 42 Abs. 6 SchulG NRW (seit 1.8.2006)
ZIELE
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Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen
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Klarstellung dessen was sowieso galt
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Standardisierung fachlichen Handelns
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Verbindliche Form interinstitutioneller Zusammenarbeit
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Sensibilisierung für das Thema Kindeswohlgefährdung
§ 8a Abs. 1 SGB VIII
Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eine Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten. |
(Schutzauftrag des Jugendamtes)
§ 42 Abs. 6 SchulG NRW
„Die Sorge für das Wohl der Schülerinnen und Schüler erfordert es, jedem Anschein von Vernachlässigung oder Misshandlung nachzugehen. Die Schule entscheidet rechtzeitig über die Einbeziehung des Jugendamtes oder anderer Stellen.“ |
Voraussetzungen für den Eingriff in die elterliche Sorge:
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Balanceakt zwischen:
Kindeswohl – Elternrecht
Hilfsangeboten – Schutzanforderungen
Autonomie – Zwang
Prävention – Intervention
Kindbezug – Elternbezug
Konstitutive Merkmale:
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Handeln in Ungewissheit
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Mehrdeutigkeit (keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge)
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Ungewissheit lässt sich nicht beseitigen, sondern nur reduzieren durch
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Organisatorische Vorkehrungen und geeignete Instrumente
AUS: ISA (Institut für soziale Arbeit)
Kindeswohlgefährdung in der Schule
Zur Erfassung einer Kindeswohlgefährdung (KWG) ist die Kenntnis von Indikatoren voraussetzend.
Äußere Erscheinung des Kindes
- Massive, häufig auftretende Verletzungen wie Blutergüsse, Striemen, Knochenbrüche, Verbrennungen ohne erklärbare nachvollziehbare Ursache
- Starke Unterernährung
- Schlechte Körperhygiene (Schmutzreste auf der Haut, unbehandelte entzündete Hautoberfläche, faulende Zähne)
- Mehrfach völlig witterungsunangemessene und verschmutzte Kleidung
Verhalten des Kindes allgemein
- Völlige Distanzlosigkeit und/oder Aggressivität
- Selbst- und fremdgefährdendes Verhalten
- Apathisches oder stark verängstigtes Verhalten
- Äußerungen des Kindes, die auf Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung hinweisen
- Massive Sprachverzögerung ohne medizinische Begründung und ohne entsprechende Förderung
- Kind hält sich wiederholt zu altersunangemessenen Zeiten ohne Erziehungsperson in der Öffentlichkeit auf
- Wiederholte oder schwere gewalttätige Übergriffe gegen andere Personen
Verhalten des Kindes im schulischen Kontext
- Sozialer Rückzug
- Emotionale Instabilität
- Massive Schulversäumnisse
- Drastische, zeitlich anhaltende Veränderungen im
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Sozialverhalten
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Arbeitsverhalten
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Lernverhalten
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Verhalten von Erziehungspersonen in der häuslichen Gemeinschaft
- Nicht ausreichende und völlig unzuverlässige Bereitstellung von Nahrung
- Wiederholte oder schwere Gewalt zwischen den Erziehungspersonen und/oder gegenüber dem Kind
- Massives Beschimpfen, Ängstigen und Erniedrigen des Kindes
- Verweigerung der Krankheitsbehandlung
- Verweigerung der Förderung eines behinderten Kindes
- Kind wird häufig oder über einen langen Zeitraum unbeaufsichtigt oder in Obhut offenkundig ungeeigneter Personen gelassen/auch ständig wechselnde Betreuungspersonen
- Verweigerung von Trost und Schutz und Körperkontakt
- Isolierung des Kindes, z.B. Kontaktverbot zu Gleichaltrigen
- Gewährung des unbeschränkten Zugangs zu Gewalt verherrlichenden oder pornographischen Medien
- Häufig berauschte und/oder benommen bzw. eingeschränkt steuerungsfähige Erscheinung der Eltern (Hinweis auf Drogen-, Alkohol- bzw. Medikamenten-missbrauch)
Wohnsituation der Familie
- Obdachlosigkeit
- Vermüllte, völlig verdreckte oder verschimmelte Wohnung
- Offensichtlich zu geringer Wohnraum/eigener Schlafplatz für das Kind fehlt
- Fehlende/defekte Heizung, fehlender Strom, kein fließendes Wasser
- Nicht artgerechte und gesundheitsschädliche Tierhaltung
- Fehlen von jeglichem Spielmaterial
Soziale Situation des Kindes
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Isolation der Familie im Wohnumfeld
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Desintegration in der eigenen Familie
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Keine Abgrenzung zu anderen Menschen/„Dauerbelagerung“ von Besuchern
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Existentielle finanzielle Notlage
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Verschuldung
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Fehlende Tagesstruktur der Familie (insbes. Tag-, Nachtrhythmus)
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Informationen sammeln
- Wahrnehmungen und Beobachtungen kontinuierlich dokumentieren:
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was ist wann, wie häufig, wo, in welchem Kontext wahrgenommen worden?
(Hinweis: sachlich notieren, Interpretationen unbedingt vermeiden!)
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Einschätzung zur Kindeswohlgefährdung gemeinsam vornehmen
- Aktivierung des Kollegiums
- Einbezug der Schulleitung
- Kooperation von Lehrpersonen und pädagogischen Fachkräften der OGS
- Inanspruchnahme von Fachberatung, z.B. Schulpsycholog(inn)en, Schulsozialarbeiter/innen, spezialisierte Beratungsstellen
Beteiligung der Familie – Schwieriges wirksam zur Sprache bringen
- Information der Familie über Gefährdungseinschätzung; Konfrontation mit den gewichtigen Anhaltspunkten für eine KWG
- Ausnahmsweise vertrauliche Thematisierungen mit einzelnen Familienmitgliedern oder Bezugspersonen, wenn der Hilfezugang sonst gefährdet ist
- Klärung der Situation und gemeinsame Problemkonstruktion
Hilfen anbieten/Hinwirken auf Inanspruchnahme von Hilfen
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wenn ausreichende Kompetenzen vorhanden sind und der eigene Hilfekontext dazu geeignet ist
wiederholte Risikoeinschätzung mit dem Kollegium
Information an das Jugendamt
- Rückmeldung an die Schule vereinbaren
Definition der Risikoindikatoren zur Kindeswohlgefährdung -
Lebenswelt der Familie |
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Wohnsituation |
keine eigene Wohnung/Obdachlosigkeit, zu geringer Wohnraum, gesundheitsgefährdende Wohnbedingungen (z. B. keine Heizmöglichkeiten/kein Strom, nasse, schimmlige Wände, erhebliche Dauerlärmbelästigung), nicht kindgerechte Wohnverhältnisse (z. B. kein Kinderzimmer), desorganisierte Wohnraumnutzung (z. B. Vermüllung, Verwahrlosung), mangelnde Sauberkeit, inadäquate Haustierhaltung, häufige Wohnortwechsel/ Umzüge |
Finanzielle Situation |
Armut, Einkommen deckt die Basis-Bedürfnisse der Familie nicht ab, Einkommen wird für spezifische Ausgaben verbraucht (z. B. Alkohol, Drogen), so dass materiell die Basis-Bedürfnisse des Kindes nicht abgedeckt werden (können), Schulden, Arbeitslosigkeit |
Soziale Situation |
Desintegration im sozialen Umfeld (Isolation), keine familiäre Einbindung/Unterstützungsmöglichkeiten, Schwellenängste gegenüber externen Institutionen und Personen (z. B. Kindergärten, Ärzten, Ämtern), Migrationshintergrund, Integrationsprobleme (kulturelle Konflikte), Nicht-Gewährung altersangemessener Freiräume (für die Kinder) |
Alltagsbewältigung/Tagesstrukturn |
keine verlässliche Tagesstruktur, defizitäre Zusammenarbeit mit professionellen Fachkräften (ErzieherInnen, LehrerInnen), |
Verhalten der Eltern im Rahmen der Erziehung |
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Aufmerksamkeit/Zuwendung |
Klammerung und Überhütung, Wechsel zwischen Zuneigung und Abstoßung, Verweigerung von Zuneigung und Zärtlichkeit, Verweigerung von Trost |
Zuverlässigkeit |
kaum Reaktionen auf die Bedürfnisse, unberechenbares Verhalten der Kindeseltern, fehlende emotionale Verlässlichkeit, |
Körperkontakt/Bindungsverhalten |
Verweigerung von Körperkontakt, fehlende, unsichere oder ambivalente Bindung |
Gewalt/Missbrauch |
körperliche oder verbale Züchtigung des Kindes (Drohen, Erniedrigen, Schütteln, Schlagen), fehlender Schutz der Intimsphäre des Kindes (Schutz vor sexueller Ausbeutung), Einsperren |
Kenntnisse über Entwicklung |
mangelnde Kenntnisse über den altersgerechten Umgang mit und den Anforderungen an Kindern, fehlende Erfahrung, Nicht-Erkennen von Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen |
Kommunikation |
gestörte Interaktion zwischen dem Kind und dem Elternteil/den Elternteilen, Nicht-Wahrnehmung von kindlichen Bedürfnissen, keine oder grobe Ansprache des Kindes, aggressiver Umgangston, herabsetzender Umgang (Degration), „Schimpfen“ |
Über-/Unterforderung des Kindes |
Überforderung durch zu große Verantwortungsbelastung, Instrumentalisierung des Kindes bei Beziehungs-, Trennungs- und Scheidungsproblemen, keine Förderung (Stimulierung), fehlende altersentsprechende Anregungen |
Regel-/ und Grenzsetzungen |
unzureichende willkürliche Grenzsetzungen, inkonsequenter Umgang mit dem Kind, fehlende Grenzsetzungen, starre Grenzsetzungen, |
Sichtweise auf das Kind |
Schuldzuweisungen, fehlende seelische Wertschätzung, Ablehnung des Kindes, als schwierig empfundenes Kind |
Merkmale der Eltern |
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Psychische Erscheinung |
psychische Erkrankungen, Suizidalität, Selbstzerstörerisches Verhalten, schwach ausgebildete soziale und intellektuelle Kompetenz |
Körperliche Erscheinung |
schlechter Allgemeinzustand, Verletzungen, körperliche/somatische (chronische) Erkrankungen, körperliche, geistige oder seelische Behinderung |
Suchtmittelgebrauch |
Suchtmittelmissbrauch (Zigaretten, Alkohol, Medikamente, Drogen), |
Belastbarkeit |
mangelnde Leistungsfähigkeit, Probleme in der Alltagsbewältigung, fehlende Ausdauer |
Eigene Gewalterfahrungen |
Deprivationserfahrungen, traumatisierende Lebensereignisse (Verlust eines Angehörigen, Unglück etc.) |
Umgang in der Partnerschaft |
Konflikte, Gewalt in der Partnerschaft |
Grundversorgung des Kindes |
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Ernährung |
alte oder verdorbene Nahrung, nicht altersgemäße Nahrung, zu wenig Nahrung, mangelnder Vorrat an Nahrung, unsaubere Nahrung, mangelnde Hygiene des Ess- und Kochgeschirrs, unregelmäßiges und nicht zuverlässiges Essen und Trinken, |
Kleidung |
witterungsunangemessene Kleidung (mangelnder Schutz vor Hitze oder Kälte, Sonne oder Nässe), dreckige, beschädigte oder nicht passende (zu enge, zu kleine) Kleidung, ungepflegter Zustand |
Körperpflege |
unregelmäßiges oder zu seltenes Wickeln, langes Belassen in durchnässten oder eingekoteten Windeln, unregelmäßiges oder sehr seltenes Waschen und Baden, Schmutz auf der Haut des Kindes, fehlende Zahnhygiene, erkrankte oder verdorbene Zähne, unbehandelte entzündete Hautoberflächen oder Wunden, ungepflegter Zustand |
Aufsichtspflicht/Betreuung |
fehlende Aufsicht (z.B. auf dem Wickeltisch, in der Badewanne, beim Spiel im Freien), Überlassung der Aufsicht an fremde Personen, Kleinkind allein in der Wohnung, Kinder nachts allein lassen, häufiger Wechsel der Betreuungspersonen |
Schutz vor Gefahren |
fehlende Beseitigung von Gefahren im Haushalt (defekte Stromkabel oder Steckdosen, Zugänge zu Alkohol/Medikamente, Herumliegen von „Spritzbesteck“), aktive Bedrohung des Kindes durch Erwachsene oder andere Kinder |
Schlafsituation |
kein eigener Schlafplatz für das Kind, beengter Schlafplatz, fehlendes Bett oder fehlende Matratze/Decken, nicht geregelter Tag-Nacht-Rhythmus, |
Spielmöglichkeiten |
karge oder nicht ausgestattete (Spiel-)Räume für das Kind, fehlender Bewegungsraum, Fehlen von Spielzeug, Fernsehen als einziges Angebot |
Medizinische Versorgung |
Nicht-Wahrnehmung der Vorsorgeuntersuchungen oder notwendiger Impfungen, Nicht-Erkennen bzw. Nicht-Behandeln von Krankheiten, Verweigerung bzw. Versäumen von notwendigen Medikamenten, Fehlen eines Hausarztes, keine Krankenversicherung, unbehandelte (chronische) Krankheiten, häufige Krankenhausaufenthalte, fehlende Sicherung der Zahngesundheit |
Entwicklungsstand des Kindes |
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Sprachliche Entwicklung |
Sprachstörungen/-auffälligkeiten (unverständliche Sprache, Babysprache, Stottern, Stammeln) |
Kognitive Entwicklung |
geistige Behinderung |
Körperliche Erscheinung |
motorische oder sensomotorische Entwicklungsauffälligkeiten, (zu) geringes Gewicht, Zeichen von Über- und Fehlernährung (Unter-/Übergewicht), Auffälligkeiten im Wachstum, Zeichen von Verletzungen beim Kind (Hämatome, Striemen, Narben, Knochenbrüche, Verbrennungen), |
Gesundheitliche Situation |
schlechter Allgemeinzustand, Allergien, körperliche Behinderung, |
Psychische Erscheinung |
psychische Auffälligkeiten |
Adäquates Verhalten |
auffälliges Sozialverhalten, Jaktationen/Hospitalismus (Schaukelbewegungen) des Kindes, Schreikind, Nähe-Distanz-Problematik, Isolation, Delinquenz, Frustrations-Aggressionsverhalten, autoaggressive Verhaltensweisen |
Institutionelle Anbindung |
unregelmäßiger bzw. punktueller Besuch (Kindergarten, Schule) |
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